Der Geschichtengenerator oder Luise

endlich habe ich den Geschichtengenerator von Jutta Reichelt ausprobiert! http://juttareichelt.com/2016/01/15/1-geschichtengenerator-in-aktion/

 

Karten Schachtel

Es funktioniert so: aus 4 Sparten (Figuren/Orte/Sätze/Joker) wählt man je eine Karte. Dann hat man 4 Karten, aus denen baut man eine Geschichte. Ich habe die Karten nicht verdeckt ausgelegt und dann Begriffe gezogen, sondern beim Ausschneiden der Karten gab es Worte, die mich angesprochen haben. Die habe ich dann geniommen. Meine 4 Karten waren:

Luise (ältere Dame mit Hut)

Treppenhaus        Komm!             Briefkasten

Nachstehend findet ihr meine Geschichte. Die Begriffe habe ich fett markiert. Mal sehen, was ihr so sagt dazu 🙂 Liebe Jutta Reichelt, vielen Dank für diese großartige Idee des Geschichtengenerators!

Luise

Luise trug ihre Hüte wie ein Manifest. Aber außer ihr wusste das keiner. Für die anderen fünfzehn Bewohner des schmalen Mietshauses war sie einfach die ältere Dame mit Hut – keiner ihrer Nachbarn hatte sie je ohne Hut gesehen.
In Luises kleiner Wohnung hatten die Hüte ein eigenes Zimmer, jeder Hut und jede Mütze hatte einen eigenen Platz und Luise hätte bei jeder ihrer Kopfbedeckungen sagen können, wo und wann sie diese erstanden hatte. Für Luise war der „Hut des Tages“ ein Ausdruck ihrer selbst, ihrer aktuellen Stimmungslage, vielleicht auch eine Reminiszenz an den letzten Traum am Morgen oder einen Gedanken, der ihr nach dem Aufstehen durch den Kopf gegangen war. Vielleicht eine leise Erinnerung an eine vergangene Liebe – Luises Hüte waren der Spiegel ihrer Seele. Sie trug die Hüte nicht nur wenn sie die Wohnung verließ, sondern auch wenn sie alleine zuhause war. Wie es zu dieser ausgeprägten Liebe zu Hüten gekommen war, wusste Luise selbst nicht so genau. In ihrer eigenen Erinnerung gab es eigentlich keine hutlose Zeit, auch Fotos aus ihrer Kindheit zeigten sie nur mit Hut. Sie erinnerte sich genau an ihren ersten Hut, ein kleiner blauer Wollhut mit schmaler aufgebogener Krempe und einem weißen Band aus Rips, das hinten in einer kleinen Schleife endete. In den Fünfzigerjahren war es undenkbar, ohne Hut auszugehen. Luise, damals jung und lebenshungrig wie alle anderen, die die schrecklichen Jahre des zweiten Weltkriegs schnell vergessen wollten, trug Kleider mit schmalem Oberteil und weitem schwingendem Rock und krönte jedes mit einem passenden Hut. In den Sechzigern wurde der Hut mehr und mehr zum Sinnbild für Spießigkeit doch Luise ließ sich nicht beirren und hielt an ihrer Liebe zu Hüten fest. Sie zog aus der süddeutschen Kleinstadt nach Berlin und begann zu studieren. Zu den Hüten gesellte sich jetzt eine Maokappe und eine schwarze Baskenmütze, statt femininer Kleider trug Luise schmale Hosen und Rollkragenpullover. Sie durchlief die Stationen ihres Lebens immer mit dem passenden Hut auf dem Kopf. Jetzt lebte sie immer noch in Berlin, hatte sich nach der Wende diese kleine Wohnung gekauft in einem heruntergekommenen Haus am Prenzlauer Berg. Sie wollte mittendrin sein, das Viertel gefiel ihr. Mittlerweile war das Haus renoviert, die Wohnungen hatten einen Balkon bekommen und jeder in ihrer Straße kannte die „Oma Hut“.
Es war ein sonniger Morgen, der Himmel spannte sich strahlendblau über die Stadt. Luise sah aus dem Fenster der Küche in den Hinterhof, drei große Birken standen direkt vor Luises Balkon und tauchten das Zimmer in grünliches Licht. Die Luft roch nach Sommer und ein bisschen Stadtstaub mit einem Hauch Kaffeeduft. Luise trug einen kleinen Sonnenhut aus orangefarbener Baumwolle mit großen weißen Tupfen. Mit einer Tasse Kaffee in der Hand trat sie auf den schmalen Balkon und sah in den Hinterhof hinab. Dido, die Katze des Nachbarn über ihr, tänzelte geschmeidig über die Tische im Hof, rieb dann ihr seidiges Fell an einem Baumstamm und verschwand hinter dem Fahrradschuppen. Luise wandte sich um und sah zur Uhr. „Zeit für die Post,“, dachte sie, nahm im Flur den Wohnungsschlüssel vom Haken und trat ins Treppenhaus. Sie ging die Treppe vom ersten Stock hinunter zum Eingangsflur, wo die Briefkästen der Hausbewohner in einer Reihe an der Wand hingen. Luise bekam nicht viel Post, außer der Tageszeitung enthielt ihr Briefkasten meist nur Werbebriefe. Als sie an diesem Morgen den Briefkasten öffnete und die Zeitung herausnahm, fiel ihr eine Postkarte vor die Füße. Luise hob sie auf und hielt einen Moment überrascht die Luft an. Die Karte zeigte das alte Museum auf der Museumsinsel vom Lustgarten aus aufgenommen. Luise drehte die Karte um und auf der Rückseite stand nur ein einziges Wort: „Komm!“. Luise schloss die Augen und stand einen Moment regungslos vor dem immer noch geöffneten Briefkasten. Dann hörte sie Kinderstimmen im Treppenhaus und wusste, der kleine Finn aus der Wohnung im Dachgeschoß würde jetzt gleich mit Gepolter die Treppen herunterrennen, seine Schwester Emma im Schlepptau. Finns und Emmas Mutter Ina würde dann die Tür der Wohnung abschließen, die Treppe heruntergehen und immer wieder abwechselnd den Namen des Jungen und des Mädchens rufen und sie ermahnen, nicht alleine auf die Straße zu gehen. Luise mochte die beiden Kinder, aber jetzt war sie so aufgewühlt dass sie sich beeilte wieder in ihre Wohnung zu kommen. Finn erwischte sie als sie ihren Wohnungsschlüssel ins Schloss steckte und rief begeistert „Oma Hut! Oma Hut!“. Luise drehte sich nur kurz zu dem Jungen um, rief ihm zu: „Hallo Finn“ , schlüpfte in ihre Wohnung und zog die Tür hinter sich zu. Sie hörte noch , wie Finn sich bei seiner Mutter, die jetzt auch im ersten Stock angekommen war, beschwerte, dass Oma Hut heute gar nicht nett gewesen sei und ging dann in die Küche, wo sie sich auf einen Stuhl sinken ließ.
„Komm!“ – sie kannte diese schwungvolle Schrift, aber es war Jahrzehnte her, seit sie sie das letzte Mal gesehen hatte. „Komm!“ hatte auch damals auf einem Blatt Papier gestanden, nur dieses eine Wort, „komm“, und ein Ausrufezeichen dahinter, das keinen Widerspruch zuzulassen schien. Sie war der Aufforderung nicht gefolgt. Sie war geblieben und hatte ihr Leben weitergelebt. Hatte geheiratet, ein Kind bekommen, war Witwe geworden und dann Oma und jetzt war sie „Oma Hut“. Tochter und Enkelkind waren in Hamburg und sie, Luise, war immer noch hier in Berlin.
Benno war damals abgetaucht, hatte sich nie mehr gemeldet, nie gefragt, warum sie nicht gekommen war. Er war aus ihrem Leben verschwunden wie ein Mitreisender, der auf der Strecke an einem anderen Bahnhof aussteigt und den man nie wiedersieht. Man teilt diese gemeinsame Erinnerung an einen Abschnitt der Reise und dann zieht man alleine weiter. Luise hatte Benno nie wirklich vergessen. Er war immer da gewesen, war ein Teil ihrer Geschichte. Jetzt, da sie älter war und an vielen Tagen in ihre Erinnerungen versank, ließ sie die Gedanken an Benno wieder zu. An diesen Tagen trug sie einen alten Stetson, dessen Zwilling Benno getragen hatte. Sie hatten beide denselben Hut gekauft, weicher kurzer Filz, aschegrau mit schmalem Lederband, und waren Hand in Hand durch den Berliner Regen gelaufen. Wie hatte Benno sie gefunden? Luise wusste nichts von den vielfältigen Möglichkeiten, Menschen ausfindig zu machen. Sie staunte und spürte, wie eine kleine Aufregung sich in ihr breit machte, sie langsam ausfüllte, sich ihren Weg bahnte vom Magen in das Herz, das plötzlich schneller schlug, bis in ihren Kopf. Und zum ersten Mal in ihrem Leben wusste sie nicht, welcher ihrer Hüte dieser Situation angemessen wäre. Sie erinnerte sich an jede ihrer Begegnungen. Beide hatten sie die Museumsinsel geliebt, das Spektakel wenn hunderte Vögel in den Bäumen aufflogen oder sich niederließen, hatten staunend vor der Nofretete gestanden, waren Hand in Hand über die Monbijou-Brücke gelaufen. Immer um sechzehn Uhr hatten sie sich unter den Säulen des alten Museums getroffen. Jeden Freitag. Und heute war Freitag. Luise legte die Postkarte auf den Tisch und legte den kleinen orangen Sonnenhut daneben. Sie hatte ihn am Morgen gewählt weil der Tag sich schon beim Aufstehen so wundervoll bunt und sonnig angefühlt hatte. Jetzt ging sie in Gedanken ihre Hüte durch. Der Panamahut? Der große Strohhut? Der Trilby? Die kleine Häkelmütze? Oder sollte sie es wagen, OHNE Hut aus dem Haus zu gehen? Wer war sie denn ohne Hut? Sie würde sich nackt fühlen, bestimmt. Eben „unbehütet“. Dennoch – da war etwas in ihr, das sagte, heute gehst du ohne Hut. Komm!

10 Gedanken zu „Der Geschichtengenerator oder Luise

  1. Liebe Carmen! Ich finde die Geschichte auch wunderbar erzählt, besonders die Idee, seine Befindlichkeit täglich neu durch einen Hut auszudrücken, ist große Klasse. Da ich Juttas Geschichtengenerator auch für mich und meine Legebilder entdeckt habe, kann ich dir nur zustimmen: es ist ein wunderbarer Ankurbeler, um eine Geschichte in Gang zu setzen. Meine Luisegeschichte ist nach sieben Fortsetzungen gestern zu Ende gegangen – arbeitet aber innerlich weiter. Ob deine wohl eine Fortsetzung findet? Liebe Grüße! Gerda

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  2. Liebe Carmen, was für eine schöne Geschichte! Es ist ja nicht einfach ein ganzes Leben zu erzählen in einem solch kurzen Text und ich mag es sehr, wie der erzählende Teil in die direktere Szene am Ende übergeht. Und der erste Satz ist natürlich auch klasse! Freut mich wirklich sehr, dass er bei dir so gut angekommen ist, der Generator … Herzliche Grüße und weiter viel Freude damit!

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  3. Carmen! Ach, wie schön! Was für eine tolle Geschichte! Und? Haben sie sich wiedergesehen? 😉 Und kann es sein, dass auch du Hüte liebst?
    Ich habe (um mal für mich Werbung zu machen) noch einen zweiten Luise-Text: Mutter hat ein Date ( https://365tageasatzaday.wordpress.com/2015/12/30/mutter-hat-ein-date/ ). Und zwei Vampirgeschichten … und und und.
    Schön, dass du wieder zum Schreiben gekommen bist! Ich hoffe, es geht dir gut.
    Liebe Grüße
    Christiane

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    • liebe Christiane – gut kombiniert…ja ich liebe Hüte! Der kleine blaue mit dem weißen Band war mein erster, ich war drei 🙂 .Ob sie sich wiedergesehen haben? Mein Gefühl sagt mir ja….ich liebe ja Happy Endings, lach.
      Dann werde ich mir mal deine anderen Texte zum Zwecke der Inspiration anschauen, liebe Grüße zu dir!
      Carmen

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      • Dann überleg dir, ob du weiterschreibst, wenn du das Gefühl hast, dass sie sich getroffen haben … Ich würde es lesen wollen.
        Freut mich mit den Hüten, dass ich da richtig getippt habe! Das mit dem Manifest finde ich übrigens prima 🙂

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